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Texte - Maja Majer-Wallat
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Maja Majer -Wallat im Gespräch
mit Barbara Weidle

Barbara Weidle: Du bist immer Künstlerin gewesen, auch
wenn du zwischendurch sehr lange andere Berufe ausgeübt
hast. Wie kommt es dazu, dass du nun diese künstlerische
Arbeit wieder aktiv aufgenommen hast?

Maja Majer -Wallat: Ich habe die künstlerische Arbeit
einerseits unterbrochen, aber ich habe sie auch in eine
andere Ebene überführt. Als ich mich in Bonn an diesem
Schreibtisch in der Kunst- und Ausstellungshalle wiederfand,
habe ich mir die Frage gestellt: Was bin ich als
Künstlerin, Meisterschülerin von Eduardo Paolozzi, hier in
der Bundeskunsthalle? Als Mutter von zwei Kindern mit
allem, was dazugehört? Wo ist eigentlich meine Kunst geblieben?
Was ist die daraus resultierende Frage? Was ist
denn kreatives Arbeiten und das Produzieren von Kunst?
Ich denke: Künstlerische Kreativität ist nicht abhängig
von der Produktion eines sichtbaren Objekts, sondern sie
kann in allen Bereichen und in jeder Phase des Lebens
kontinuierlich Anwendung finden. Das bedeutet künstlerisches
Schaffen für mich. Ich habe das eingebracht in
die Arbeit als Pressesprecherin für die Bundeskunsthalle,
in das Leben mit meinen Kindern, mit zehn Aupair-Mädchen
über die Jahre, mit FreundInnen, mit Festen, mit
Krankheiten, mit dem Finden von Lösungen. Man muss
unentwegt Lösungen finden. Da ich mein Leben als selbst
gewählt empfinde, ist folglich damit auch das Lösen der
daraus resultierenden Probleme verbunden. Ähnlich einer
künstlerischen Produktion.

BW: Ich dachte mir, dass du die Frage nach der künstlerischen
Arbeit so beantworten würdest. Ich finde diese
Haltung sehr schlüssig und habe sie lange bei dir beobachten
können.

MM -W: Als ich mein Angestelltendasein beendet hatte
und auch vorher schon, als die Kinder aus dem Haus gegangen
waren, war mir völlig klar: Da muss irgendeine
Orientierung hin, die mir Kanäle für meine Energie eröffnet.

BW: Was war dein Plan?

MM -W: Ursprünglich hatte ich vor, wieder in den handwerklichen
Teil der keramischen Produktion zu gehen. Das
aber ging nicht, weil meine Hände das nicht mehr wollen.
Ich bin dreimal an den Händen operiert worden, und der
Arzt hat mir gesagt: »Besser lassen Sie das.« Dann habe
ich den großen Elektro-Ofen, in dem ich Skulpturen gebrannt
habe, zumindest die kleineren, verschenkt. Danach
steckte ich in einem ziemlichen Dilemma, weil ich gar
nicht wusste, was jetzt kommen sollte. Ich bin dann durch
das Buch von Jean-Francois Billeter »Ein Paradigma«, einfach
durch das Lesen dieses kleinen Bändchens, in einen
anderen Zustand geraten, den ich mir dann geleistet habe.

BW: Was hat dich an diesem Buch, an dem philosophischen
Denken in Auseinandersetzung mit chinesischen
Traditionen, fasziniert?

MM -W: Ich glaube, es war der erste Satz. Er schildert
sinngemäß, wie er frühmorgens im Café sitzt und weiß,
dass er da nicht gestört wird, seinen Gedanken folgen
und sich treiben lassen kann. Er hört beiläufig die Gespräche
der anderen und lässt seine Gedanken fließen.

Es ist eine Art Ausstieg aus dem Linearen ins Laterale.

BW: Was war das für ein Zustand, in den du durch diese
Lektüre geraten bist?

MM -W: Das war ein Zustand des Öffnens ins Hinschauen
und Beobachten, was passiert. In dieser Zeit war ich mal
wieder in der Bretagne in den Gärten von Freunden, im
Speziellen dem einer Freundin, die auch Mohn pflanzt.

BW: Warum hast du Mohn als künstlerisches Rohmaterial
deiner Arbeit ausgewählt? Wie kamst du darauf?

MM -W: Der Mohn ist einerseits beliebig. Es hätte auch
etwas anderes sein können. Aber nach diesem Öffnen
ins Hinschauen und zur Wahrnehmung von Schönheit bin
ich diesen Mohnblüten im Finistère begegnet. Ich sah
den Schlafmohn in voller Blüte. Schlafmohnblüten haben
unglaubliche Farben: fast schwarz, violett, orange, gelb,
rot. Mir ist aufgefallen, dass diese Blüten alle wunderbare
Stempel haben. Ich habe einer dieser Blüten den Stempel
herausgeschnitten, weil ich dachte: »Stempel. Ist ja
interessant, dass man das Stempel nennt«, und habe begonnen,
damit zu stempeln. Das war der Urmoment des
sich vollkommen Öffnens, assoziativ und durchaus auch
emotional, ins Tun kommen. Was dabei herauskam, hat
mich sehr verwundert. Gänsehaut.

BW: Was war das genau?

MM -W: Die Tatsache, dass durch dieses einfache Tun eine
Zeichensprache entsteht. Was da alles möglich ist. Damit
bin ich immer noch beschäftigt. Es ist nicht so leicht, an
diese Stempel heranzukommen.

BW: Eine Zeichensprache und auch eine Dynamik, die
sich da offenbart.

MM -W: Ein halbes Jahr später, im Herbst, kam ich wieder
in die Bretagne und fand irgendwo einen Haufen dieser
weggeworfenen vertrockneten Blüten-Stiele, die sich
dann so wunderbar verkapseln. Irgendwas hat mich dazu
gebracht, diesen Haufen in eine Tüte zu packen und mitzunehmen.
Ich habe mir einen Arbeitsplatz gebaut, einen
Tisch am Fenster, mit Blick in die Natur und aufs Meer. Mir
einen sehr weiten Horizont gegönnt. Dann habe ich das
genommen, was da war, eine Tube Kleber, eine Schere,
ein Küchenmesser, und habe angefangen, mit diesen
Kapseln zu experimentieren.
Ich habe alles, was da entstanden ist, und alles, was ich
an Kapseln mit Stiel finden konnte, eingepackt und mit
nach Köln genommen. Hier habe ich mir dann ein Atelier
eingerichtet.

BW: So wie du das beschreibst, war das ein natürlicher
Prozess und gar keine Entscheidung?

MM -W: Ein natürlicher Prozess insofern, als ich etwas
gefühlt habe. Dem bin ich einfach gefolgt, so wie ich,
wenn ich Durst habe, mir ein Glas Wasser besorge. So
war dieses Gefühl von ganz normalem Tun. Dann habe
ich weitere formale Versuche gemacht, vollkommen ohne
Ziel. Ganz wichtig. Ohne Ziel, ohne Zeitdruck. Vielleicht
so frei, wie ich in meinem Leben nie war.
Ich erkannte die zeichnerische Qualität der Stiele, so wie
sie in der Natur entstehen. Zum Beispiel sind die Stiele
von gezüchtetem Mohn gerade und eher langweilig.
Während im Finistère, wo es stürmt und die Blüten umfallen,
die Stiele sich wieder aufrichten und natürliche
Bewegungen entstehen. Diese Bewegungen habe ich
wahrgenommen und die Stiele dann linear geordnet,
immer im Hinblick auf ihre zeichnerische Qualität.
In einem nächsten Schritt habe ich Anfang und Ende der
Linien definiert, indem ich zwei Stiele, mit Kapseln an
ihren Enden, zusammengefügt habe. Ich habe zwei genommen,
um Anfang und Ende der Linie zu definieren.
Ich habe sie zunächst auf der Wand angeordnet. In einem
zweiten Schritt habe ich sie unter die Zimmerdecke gehängt.

BW: Wie kam es zu diesem Schritt?

MM -W: In dieser Zeit habe ich mich noch einmal mit
meiner Legasthenie beschäftigt, die ein Drama in meinem
Leben war, und mit einer Spezialistin über Sprache, Ausdruck
und anderes gesprochen.
Zeitgleich war eine amerikanische Künstlerin zu Besuch,
mit der ich auch über Legasthenie gesprochen habe.
Es gibt anscheinend Sonderbegabungen in diesem Feld.
Eine der herausragenden Sonderbegabungen ist das
Gefühl für Raum. Und das scheint bei mir der Fall zu sein.
Ich habe ein sehr gutes räumliches Denken und ich kann
Volumen spüren. Das habe ich vorher nicht als Qualität
erkannt. Ich glaube, dass das ein ganz wichtiger Schritt
gewesen ist. Danach lag ich wie so oft auf dem Sofa und
schaute mir die Installation der Stiele an der Wand an.
Dann habe ich auf einmal gedacht: »Wenn ich diese Stiele
vertikal miteinander verbinde und nur den obersten Stiel
befestige, und wenn ich dann daran vorbeigehe, bewegt
sich diese Zeichnung an der Wand.« Das hab ich dann
auch sofort gemacht.

BW: Wie war das Ergebnis?

MM -W: Tatsächlich war das sehr schön, weil immer leichte
Bewegung entstand bei Windzug, beim Vorbeigehen.
Ich habe weiter gesucht und ausprobiert, experimentiert.
Mir war das Schweben wichtig. Der Eindruck entstand
durch die Verknüpfung der Stiele mit einem unsichtbaren
Faden.
Auf dem Sofa liegend habe ich mich mit Blick auf die
Zimmerdecke gefragt: »Wieso ist eigentlich nie etwas da
oben?« Ich bin aufgestanden, habe einen Haken in die
Decke gemacht und habe diese verbundenen Teile an
die Decke gehängt, mich sofort wieder hingelegt, und ich
habe eine Gänsehaut gehabt, die ging vom Kopf bis in
die Zehenspitzen. Ein unglaubliches Gefühl, ein Glücksgefühl.
Da habe ich gedacht: »Genau. Jetzt ist es richtig.«,
so ein Gefühl von: Das ist es.
In der Folge habe ich darüber nachgedacht: Warum ist
das für mich so wichtig, dass es mir rein über das Fühlen
und Sehen in dieser totalen Stille und Langsamkeit
so ein Glück verschafft? Und dann ist mir klargeworden,
dass in dieser Arbeit die Quintessenz meines Blicks auf
Leben, Menschen, Gesellschaft, jede Form von Dynamik
im menschlichen Sinne konkretisiert ist, und ich habe das
»Balance und System« genannt. Im Zusammenhang mit
zwanzig Jahren analytischer und systemischer Therapie ist
die interaktive Abhängigkeit von allem mit allem mir so
geläufig. Das hat sich für mich darin kristallisiert.

BW: Deine Mobiles sind Zeichnungen im Raum, wir haben
schon kurz darüber gesprochen. Wie ist dein Bezug zur
Natur? Es ist ja sicher kein Zufall, dass du Naturmaterialien
benutzt für deine künstlerische Arbeit?

MM -W: Das hat verschiedene Wurzeln. Ich komme aus
einer Apothekerfamilie und bin damit groß geworden,
dass beide Eltern große Kenntnisse über die Natur hatten.
Insbesondere mein Vater, der aus einer Försterfamilie
stammt. Der Großvater war Forstmeister in Wangen im
Allgäu. Mein Vater ist also im Wald am See groß geworden
und dann später durch das Pharmaziestudium sehr
intensiv mit Pflanzen in Kontakt gekommen. Er hat auch
selber Arzneimittel hergestellt. Wir sind nie in die Natur
gegangen, ohne dass erklärt wurde. Dass man aus Fingerhut,
der giftig ist, Digitalis gewinnt und dass das ein
Herzmedikament wird, zum Beispiel. Desgleichen beim
Pilzesammeln. Lernen, wie funktioniert ein biologischer
Schlüssel beim Pilzesammeln, damit man da keine Fehler
macht. Wir sind jedes Jahr zweimal mit Studenten, die bei
uns in der Apotheke zur praktischen Ausbildung waren,
zum Botanisieren gefahren. Diesen ganzen Prozess habe
ich als Kind x-fach miterlebt und dadurch einfach beiläufig
Kenntnisse gesammelt.

BW: Das ist jetzt der eine Aspekt, die Apothekerfamilie,
das Botanisieren. Aber man kann ja auch noch etwas
anderes darin lesen. Dieses Kontemplative, Natur, Verlust
von Natur und vielleicht diese Sehnsucht dahin zurück
und die Schönheit erfassen. Die Sehnsucht nach Schönheit
und Natur.

MM -W: Meine Sehnsucht nach Schönheit ist sehr groß.
Aber auch die Sehnsucht nach Freiraum ist etwas gewesen,
was mich mein Leben lang beschäftigt hat. Ich hatte
immer das Gefühl, ich brauche Platz um mich herum, im
tatsächlichen räumlichen Sinn. Das hängt sicher auch mit
meiner Kindheit zusammen, die nun mal, ich bin Jahrgang
1948, in den Fünfzigerjahren unter extrem normierten,
eingeengten Vorzeichen stattfand. Das vollständige Fehlen
eines psychologischen Blicks oder auf die individuellen
Kapazitäten eines Kindes war prägend.
Als ich mit fünf Jahren meine Eltern um ein Gespräch
gebeten und sie offiziell davon in Kenntnis gesetzt habe,
dass ich sehr gerne tanzen lernen möchte, war die Antwort
meiner Eltern: Du lernst Schwimmen und Klavierspielen,
wie alle anderen auch. Punkt.

BW: Es ist interessant, dass du das ansprichst. Zum einen
war das ja damals so üblich, der Standard im Umgang
mit Kindern. Aber das Tanzen, das Tänzerische spielt bei
deinen Arbeiten durchaus eine Rolle.

MM -W: Meine älteste Halbschwester war befreundet mit
einer Tänzerin, die immer zu uns nach Hause kam, als ich
klein war, vier oder fünf. Sie hat zu meiner Schwester gesagt:
»Deine kleine Schwester, die müsst ihr mal im Auge
behalten. Die ist begabt, die hat da etwas Körperliches.
Das ist besonders.« Das hat natürlich zu nichts geführt.
Leider. Aber später sagte mir ein Akupunkteur, ich hätte
den perfekten Sprungfuß.

BW: Noch mal zur Natur. Es ist nicht eine romantische
Sehnsucht oder ein Reflektieren über die Bedrohung der
Natur durch den Menschen, das du in deinen Arbeiten
thematisierst?

MM -W: Nein, das bin ich gar nicht. Aber zum Beispiel, als
ich 1981 hier in die Volksgartenstraße gezogen bin, war
der Hof eine Wüste. Im Sommer, glühend heiß, der Beton
und der Fugenteer, grauenvoll. Dann habe ich mit den
minimalen Mitteln, die ich damals hatte, Töpfchen gekauft
und habe angefangen, mit einer alten Zinkbadewanne
da unten den Hof zu begrünen. Heute ist da der hübsche
kleine Bambus-Wald mit einem grünen Zimmer, in dem
man im Sommer sitzen kann. Das heißt, ich bin weniger
bedauernd, sondern ich brauche Natur. Also habe ich sie
mir gepflanzt.

BW: Ja, aber das ist ja dann doch eine Sehnsucht, eine
Notwendigkeit.

MM -W: Ich brauche Natur, das ist für mich ein Gefühl von
Zuhause.
Das Tänzerische. Das stimmt schon, dass ich beim Betrachten
dieser Elemente Assoziationen habe zu der Bewegung
im Raum. Es sind tatsächlich Raumzeichnungen
geworden. Fast so etwas wie Choreographien. Ich habe
zum Beispiel festgestellt, dass je nachdem, wie die Mobiles
sich formieren, sie ein Volumen beschreiben und sich
dann auch wieder linear organisieren. Das geschieht ganz
von selbst: hinlegen, schauen, warten.

BW: Es gibt keine Festlegungen, sondern eine große Freiheit.

MM -W: Ja, es gibt keine Festlegungen, auch nicht, wie
viele Elemente die Zeichnung hat. Es gibt allerdings jetzt
zunehmend natürlich auf einer intellektuellen Ebene Begründungsversuche
in mir, was das sonst noch ist im Kontakt
zur Welt, der Kunstwelt und all dem, was ich gesehen
habe. Ich habe immer eine große Sehnsucht danach
gehabt, einen Raum zu finden, der nicht kolonialisiert ist.
Von der Kunstszene.

BW: Du meinst Raum, der nicht besetzt ist von der Kunstwelt?

MM -W: Ja, genau. Diesen Raum habe ich da oben gefunden.
Für mich gefunden. Und dieses einfach Tun beschreibt
den Moment, in dem der Verstand aufhört, das Denken
zu behindern. Das Denken muss sich nicht unbedingt in
Buchstaben und Sprache vollziehen, sondern das Denken ist
ganzkörperlich. Beuys hat es auch im Knie verortet.

BW: Ich möchte noch einmal zum Material zurückkehren.
Diese Implikationen, die Mohn kulturhistorisch hat, sind
die für dich bedeutsam? Schlaf und Tod? Traum? Die
antike Mythologie, was da so alles mitschwingt? Uralte
Kulturpflanze, Arzneimittel, Droge.

MM -W: Es ist schön, dass du das ansprichst. Aber es ist
kein Motor dafür gewesen, darüber habe ich nicht nachgedacht.
Jetzt bewegen sich diese »Zeichnungen« im
Raum, und erst jetzt beginne ich, über diese Dinge nachzudenken.
Die Auswahl hat stattgefunden der Schönheit
wegen, und weil die Mohnpflanzen einfach gerade da
waren.

BW: Das ist sehr erfrischend.

MM -W: Ich muss nichts abliefern. Ich muss nicht gefallen.
Ich bin frei. Früher zum Beispiel, als ich die Ausstellung
in der Kölner Artothek hatte mit einer großen Installation
aus mehreren großen Keramik-Elementen, ging es schon
darum, dass ich etwas wollte.

BW: Wie kam es zu dieser Entscheidung, künstlerisch mit
Keramik zu arbeiten?

MM -W: Für das Studium der Keramik habe ich mich entschieden,
weil ich vorher Hutmacherin war. Es geht bei
beidem um Volumen.
Ich studierte bei Eduardo Paolozzi an der Werkschule.
Paolozzi war jemand, der sehr stark auch das manuelle
Denken, quasi das körperliche Denken, eingeführt hat,
indem er den StudentInnen immer wieder pro Semester
oder alle zwei Semester eine Technik empfohlen hat. Er
hat gesagt: »Jetzt machen wir Papier, oder jetzt machen
wir das, das, das.« Und insofern war, glaube ich, dessen
Denken mir unausgesprochen sehr nah.
Einmal kam ich zu ihm zu einer Besprechung und habe
gesagt: »Ich möchte mit meinen Arbeiten das und das
sagen.« Er hat darauf geantwortet: »Du bist hier nicht im
Pädagogischen Seminar. Als Künstlerin bist du dazu da, in
einer Form eine Äußerung zu machen, dich auszudrücken.«

BW: Was hast du noch von Paolozzi gelernt?

MM -W: Paolozzi war jemand, der mit allem gearbeitet hat,
Bei mir im Atelier, das war da, wo auch die Galerie war,
also 50 Meter von der Werkschule entfernt, am Ubierring,
haben wir oft abends gesessen, und wir haben dann
zusammen in so einem riesigen Blechtopf Spaghetti
gekocht, mit Olivenöl und Knoblauch. Als Italiener hat er
natürlich großen Spaß dran gehabt. Es gab irgendeinen
Wein. Dann haben wir mit ihm diskutiert, bis nachts um
drei. Er hat immer den Advocatus Diaboli für uns gemacht.
Er hat uns so sehr herausgefordert, intellektuell.
Das hat mich sehr geprägt.

BW: Und dann gibt es auch noch die psychologische Ebene,
die für dich sehr wichtig war.

MM -W: Ich habe immer parallel zur künstlerischen Arbeit,
begleitend zu alldem, eine Analyse gemacht. Anfang der
Siebzigerjahre war das noch sehr spooky, wenn man in
Gesellschaft geäußert hat, dass man sich in diese Richtung
bewegt. Das war überhaupt nicht akzeptiert. Und
schon gar nicht wollte man das verstehen oder konnte
man sich dem zuwenden, in dem Sinne, dass das etwas
ist, das einem eine neue Dimension des Empfindens und
Denkens ermöglicht.

BW: Ich möchte noch einmal auf die Arbeiten zurückkommen.
Die Farblosigkeit deines künstlerischen Materials. In
der Natur gibt es ja ganz wunderbare Farben, die Blätter
sind schön. Blütenbl.tter sind manchmal wie Schmetterlingsflügel,
auch die des Mohns wie auch die der Tulpen,
wenn sie verblühen. Aber das alles kommt in deinen
Mobiles, deinen Zusammenfügungen des Naturmaterials
nicht vor. Es ist eher die Abwesenheit von Farbe, die sie
auszeichnet. Oder zumindest sind es nur Naturtöne, und
zwar die des Vergehens.

MM -W: Ich brauche die Farbe nicht. Ich nehme, was ich
finde, ähnlich der Arte povera.

BW: Möchtest du mit diesen Arbeiten eigentlich in einen
Dialog treten oder ist das eher so ein Statement: »Hier,
das bin ich, das ist meine Arbeit. Macht damit, was ihr
wollt.«?

MM -W: Ich frage mich gerade, ob es mir wichtig ist, verstanden
zu werden, und ob das ginge, dass einem das
egal ist. Ich glaube, mir ist es nicht egal.

BW: Das heißt, du nimmst dir da diese Freiheit, aber du
möchtest trotzdem verstanden werden?

MM -W: Ja, ich möchte verstanden werden. Ich habe
es auch gerne, wenn man mich fragt. Die FreundInnen
oder auch KünstlerInnen, die sich das angeschaut haben,
waren verblüfft und fanden die Arbeiten schön. Was dann
noch kommt, ist etwas, das kriegt man nur, wenn man sich
die Zeit nimmt.

BW: Ja, das kann ich mir vorstellen. Man muss hier liegen,
sich die Arbeiten anschauen.

MM -W: Die sind wie Individuen eigentlich. Ich kann sie
auch zu neuen Clustern miteinander verbinden. Damit bin
ich gerade beschäftigt. Wie weit ich diese einzelnen Elemente
reduzieren kann. Und auf der anderen Seite: Wie
viele Elemente kann ich verbinden? Ich bin jetzt bei drei
Elementen. Gleichzeitig arbeite ich daran, möglichst viele
Elemente zu einem Cluster zu verbinden und die Möglichkeiten
im Zusammenhang mit Licht und Schatten in der
Bewegung zu erforschen.Ich liege hier jeden Tag und schaue, schaue, schaue. Das
Betrachten dieser Objekte entschleunigt, führt tatsächlich
in einen anderen Denkzustand, eine andere Ebene.

BW: Wie eine Meditation oder ein Alphazustand?

MM -W: Es ist ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen.
Ich würde es gar nicht mal Meditation nennen.

BW: Also einen Entspannungszustand, der in diesem Zwischenreich
schwebt.

MM -W: Alphazustand ist schön. Meditation ist mir zu religiös
behaftet. Ich möchte das eher neutral formulieren.

BW: Du hast schon über Paolozzi gesprochen. Welche anderen
Künstlerinnen oder Künstler sind für dich wichtig?

MM -W: Mich hat sehr früh Meret Oppenheim fasziniert.
Die »Pelztasse« oder »Das Ohr von Giacometti«. Das war
die zweite künstlerische Arbeit, die ich gekauft habe. In
Winterthur war eine Meret-Oppenheim-Ausstellung, da
bin ich hingefahren und habe mir dann diese Grafik gekauft.
Das allererste Kunstwerk, das ich gekauft habe als
Studentin, ganz am Anfang, war das Multiple »Intuition«
von Beuys. Das hängt in meinem Atelier. Es kostete damals
100 D-Mark, das war sehr viel Geld für mich.
Der »Intuitionskasten« bedeutet für mich auch so etwas,
wie einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem alles
passieren kann, und er zeigt mir, dass ich diesen Raum
habe. Den habe ich in meiner Imaginationskraft.

BW: Zerbrechlichkeit ist ein ganz zentraler Aspekt bei
deinen Arbeiten. Etwas Schwebendes, Tänzerisches, aber
sie haben eben auch diese Zerbrechlichkeit.

MM -W: Sie sind ganz fragil. Aber jedes Gleichgewicht ist
fragil. Ich sehe das vor dem Hintergrund der schweren
Keramik-Arbeit »Koiné – Das Gemeinsame im Verschiedenen
«, die ich 1984 für die Ausstellung in der Kölner
Artothek gemacht habe. Vor der ganzen Schwere, auch
im Sinne von tatsächlichem, körperlich zu bewältigendem
Gewicht dieser keramischen Skulpturen. Dass das jetzt
kein Gewicht mehr hat, also kaum materielles Gewicht.
Und dass die Gewichtung in der Arbeit vielmehr in eine
transzendente Richtung geht.
Diese Ästhetik hat für mich auch sehr stark etwas von Altmeister-
Zeichnungen von der Farbigkeit her, der Tonigkeit.

BW: Renaissance- oder Barock-Zeichnungen zum Beispiel.

MM -W: Ich kann mich erinnern, dass ich in Paris im Petit
Palais die Selbstportraits Rembrandts vor langer Zeit
gesehen habe und so beeindruckt war von den winzigen
Kaltnadelradierungen, dass ich angefangen habe, sie
nachzuzeichnen. Ich habe mich damit beschäftigt, aber
das ist alles in Vergessenheit geraten. Das ist so, als hätte
im Lauf meines künstlerischen Lebens und überhaupt meines
Lebens so eine Art Kompostierung stattgefunden. Die
jetzt dazu führt, dass da Entsprechendes wächst.

BW: Du nennst deine aktuelle Werkgruppe »Balance und
System«. Warum?

MM -W: Der Titel bezeichnet nicht nur die Arbeiten,
sondern verweist auf meine sehr persönlichen Lebenserfahrungen
und meinen Blick auf die Erfahrungen in der
Familie, in den Freundeskreisen, in allen Arbeitskontexten,
am Theater in Paris, überall, wo ich gewesen bin,
immer ging es um »Balance und System« der Menschen
untereinander, immer bin ich auf die gleichen Probleme
gestoßen.
Und da hat natürlich die Analyse und auch die gruppendynamische
Ausbildung und alles, was ich gemacht habe,
sowohl emotionales als auch intellektuelles Futter geliefert,
das wahrzunehmen. Wenn man das lange genug
wahrnimmt, dann kommt eben die Zeichnung auf einmal
mit so einem Lebensthema zusammen. Und mit Glück
fühlt sich das dann gut an.

BW: Das Thema Horizontale/Vertikale ist in deinen Arbeiten
ganz leise präsent.

MM -W: Die Vertikale ist ja sozusagen die Vorgabe für die
Hierarchie. Das ist eines der Hauptthemen, denke ich,
überhaupt in der Gesellschaft, in der Familie, im Patriarchat,
im Kapitalismus. Und die Horizontale und das
Denken hat eine ganz andere Ergebnisorientierung. Da
kommen andere Dinge dabei heraus.

BW: Bei deinen Arbeiten sieht man die Vertikale nicht.

MM -W: Genau. Die sieht man nicht.

Das Gespräch fand am 6. November 2019 in Köln statt.
Barbara Weidle: Journalistin, Kunsthistorikerin, Verlegerin

Abgedruckt in:
Maja Majer-Wallat
Balance & System
Galerie Werner Klein, 2021
30 Seiten


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